Profane Kreativität

spurensicherung

Welche Alternativen gibt es zum Modell einer institutionalisierten Hochkultur mit dem ihr angeschlossenen Kreativitätsethos und ihrer Fixierung auf ein Publikum?

Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz schlägt das Feld einer "profanen Kreativität" vor.

»Wenn Kreativität bedeutet, dass etwas ästhetisch Neues verfertigt wird, gibt es keinen Grund, sie zwangsläufig an eine Konstellation zu binden, in der ein individueller oder kollektiver Produzent dieses Neue vor einem und für ein Publikum verfertigt, um dessen Aufmerksamkeit und Anerkennung er ringt.

Das Produzenten-Rezipienten-Modell der Kreativität führt letztlich das hochspezifische kulturelle Muster des modernen Künstlers fort, der sich seine Originalität von seinem Publikum zertifizieren lässt.

Trotz der Universalisierung, die das kreative Subjekt über den Künstler hinaus erfahren hat, funktioniert dieses Kreativitätsmodell über den Weg des Vergleichs und der Differenzmarkierung, nämlich zwischen dem Kreativen und Unkreativen, dem Originellen und Nichtoriginellen.

Das Kreative wird zwar einerseits verallgemeinert, aber im Rahmen des Publikumsmodells immer sofort wieder "rarifiziert". Es ist und bleibt das Besondere, das sich vom Konformen abhebt - selbst wenn die Standards dessen, was als neu und interessant zählt, variabler geworden sind.

Entgegen dem eigenen Anspruch schreckt dieses Modell damit letztlich vor einer radikaleren Universalisierung des Kreativen zurück; Kreativität bezeichnet hier immer eine Erwartungsstruktur, an der man scheitern kann. Sie fügt sich nahtlos in den umfangreichen Anforderungskatalog ein, dem das moderne Subjekt ausgesetzt ist - nur, dass diese Anforderung in diesem Falle noch unberechenbarer ist, da sie von "den Launen" des Publikums abhängt.

Eine Vorstellung von Kreativität, die sich vom Publikum, vom Vergleich und von der Steigerung emanzipiert, ginge es hingegen um das, was man "profane Kreativität" nennen kann.

Anders als das heroische Modell der Kreativität, das vom Ideal des Künstlers ausgeht, bezeichnet die profane Kreativität ein Phänomen, das sich in den alltäglichen Praktiken und Netzwerken immer schon ergibt und dabei auf kein Publikum angewiesen ist.

Die profane Kreativität findet sich in der Alltäglichkeit individueller, scheinbar banaler Verrichtungen, die ganz ohne Zuschauer auskommen, wie auch in der intersubjektiven Praxis.

Entscheidend für Letztere ist, daß es hier keine Trennung von Produzenten und Publikum gibt, sondern nur Teilnehmer und Mitspieler.

Löst man die kreative Praxis von der Beurteilung durch ein Publikum, dann genügt es, dass sie von den Teilnehmern selbst als neu und anders empfunden wird, ohne dass ein situationsübergreifender und vergleichender Maßstab Sinn ergeben würde.

Für die profane Kreativität gilt, daß sie ein lokale, eine situative Praxis ist, die im jeweiligen Moment etwas für den oder die Teilnehmer Erfinderisches hervorbringt und ihnen Lust bereitet.

Die profane Kreativität kennt somit kein Rezipienten, aber sie geht auch nicht eigentlich von einem Produzenten aus: Sie ereignet sich in der Sequenz der Praxis und der Subjekt-Objekt Netzwerke.«

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Zitiert nach Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Suhrkamp 2012. Seite 358 u. 359.
ISBN 978-3-518-29595-3

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